Zurück zum Buch: Warum die Digitalnation Schweden in Schulen wieder auf Gedrucktes setzt

Beim Einsatz von Computern in Schulen gelten Dänemark und Schweden als Vorreiter – doch ausgerechnet dort gibt es jetzt massive Kritik an der Digitalisierung der Bildung. Die Regierungen lassen sogar wieder Bücher anschaffen. Ein Besuch bei denen, die jetzt wieder blättern statt wischen.

Es ist die erste Stunde nach dem Mittagessen, kurz nach 13 Uhr, da verlangt die Lehrerin Linnea Larson von ihren Schülerinnen und Schülern der Klasse 6B der Johannesskolan im Zentrum Malmös etwas ganz und gar Verwegenes: Sie sollten jetzt mal bitte ihre Bücher aufschlagen. Genau, ihre Bücher. Gedruckt, auf Papier. „Seite 66 und 67, Aufgaben eins bis drei.“

Auf dem Stundenplan steht Mathematik, es geht um Proportionalität. Wenn ein Kilo Erdbeeren 120 Kronen kostet, was kosten dann 500 Gramm? Und was 1250 Gramm? Um so was geht es. Linnea Larson geht von Schüler zu Schüler, erklärt, zeigt, hilft. Manchmal geht sie zum Schrank, holt ein Heft raus und bringt es jemandem. Ein Heft, zum Reinschreiben, mit der Hand. „Und wer schon fertig ist, kann noch die Seite 69 machen. Als Zusatz.“

Die Laptops bleiben zu

Es ist noch nicht lange her, da wäre eine solche Szene an einer schwedischen Schule vollkommen unrealistisch gewesen. Warum bitte sollten Schüler denn wohl ein Buch nehmen, wenn es die Aufgaben auch auf dem Computer gibt – und im Zweifel auch das ganze Buch? Und wieso bitte sehr sollten sie denn mit einem Stift schreiben – auf Papier! –, wenn sie die Lösungen doch auch tippen könnten?

Aber inzwischen hat sich der Wind gedreht. In der 6B der Johannesskolan liegen die Laptops vor den Schülerinnen und Schülern auf den Tischen – und bleiben zugeklappt. Linnea Larson ist 27 Jahre alt, seit drei Jahren unterrichtet sie Schwedisch, Mathematik und Naturwissenschaften. „Wir haben eine große Verant­wortung gegenüber den Schülerinnen und Schülern“, sagt sie. „Aber mit den digitalen Medien haben wir es einige Jahre lang leider übertrieben.“

Und nur einen Raum weiter zeigt ihre Kollegin Jovana Djuric, ebenfalls 27 Jahre, wie zum Beweis eine kaum leserliche Arbeit, die bei ihr eben ein Schüler abgegeben hat. Manche seien kaum mehr in der Lage, richtig mit der Hand zu schreiben, so sehr seien sie das Tippen gewohnt. „Es ist ein bisschen zu viel geworden mit dem Computer“, sagt sie. „Manche benutzen ihn einfach nicht auf die richtige Weise.“

Naiv, ahnungslos, schädlich

Wie bitte? Ausgerechnet Schweden, das gelobte Land der digitalen Schulen, entdeckt seine Skrupel und empfiehlt seinen Kindern wieder, tatsächlich: Bücher?

Der Schwenk begann im vergangenen Frühjahr, mit einer Bewertung der nationalen Digitalisierungs­strategie für das Schulsystem durch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Karolinska-Instituts, einer der angesehensten Forschungs­einrichtungen weltweit. Ihr Votum kommt einer Vernichtung des bisherigen schwedischen Wegs gleich, der sich in einem Satz zusammenfassen lässt: Je mehr Computer es in den Schulen gibt und je öfter sie eingesetzt werden, desto schlechter.

Was die fünf Professorinnen und Professoren von diesem Weg halten, lässt sich in drei Worten beschreiben: Naiv, ahnungslos, schädlich. Tatsächlich kommt ihr Statement einer Vernichtung gleich.

„Wissenserwerb über gedruckte Schulbücher“

„Die Nationale Bildungsagentur scheint sich überhaupt nicht bewusst zu sein, dass die Forschung gezeigt hat, dass die Digitalisierung der Schulen große negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler hat“, schreiben sie. Die Arbeit am Computer führe zu permanenter Ablenkung, die eigenständige Recherche im Netz zu schlechten Inhalten, das Lesen und Schreiben am Bildschirm schon in der Grundschule behindere die Lese- und Schreibfähigkeiten.

Und so kommen die fünf Forscherinnen und Forscher, alle aus dem Bereich Psychologie, Medizin und Neuro­wissenschaften, zu einem im Jahr 2023 auf den ersten Blick dann doch überraschenden Ergebnis: „Wir sind der Meinung“, resümieren sie, „dass der Schwerpunkt wieder auf den Wissenserwerb über gedruckte Schul­bücher und das Fachwissen des Lehrers gelegt werden sollte.“

Digitale Versuchskaninchen

Mit dieser neuen Skepsis gegenüber den Auswüchsen einer gar zu euphorischen Digitalisierung ist Schweden nicht allein. Auch in Dänemark, während der Pandemie gerade von deutschen Eltern und Lehrkräften als gelobtes Land einer digitalen Zukunft verklärt, herrscht inzwischen Ernüchterung. Er entschuldige sich bei einer „Generation von digitalen Versuchskaninchen“, ließ Bildungsminister Mattias Tesfaye das Land gerade erst öffentlich wissen. Man habe eine „Generation von Kindern und Jugendlichen im Stich gelassen“, bekannte er.

In zwölf Empfehlungen für die Nutzung von Smartphones und Computern an Grundschulen schlägt die Regierung „handyfreie Schulen“ ebenso vor wie das Wegsperren von Computern und Laptops, wenn sie nicht im Unterricht benutzt werden. Beide, die schwedische wie die dänische Regierung, wollen mit Bücher­kauf­programmen ihre Schulen üppiger mit gedruckten Werken ausstatten.

Schweden ließ sich dies im vergangenen Jahr 60 Millionen Euro kosten, in diesem und im kommenden Jahr sollen ähnliche Summen fließen. Die liberale Bildungsministerin Lotta Edholm rechnet fest damit, dass sie mit dieser Entscheidung auch öffentlich punkten kann. Viele Eltern wollten, „dass wir die Bücher zurückholen“, sagte sie.

Neue Bücher für 60.000 Euro

Und auch der Zustimmung von Pär Blondell kann sie sich sicher sein. „Ich mag Bücher!“, sagt er lächelnd. Dank des Programms konnte er im vergangenen Jahr für 60.000 Euro neue kaufen. Eine ungewohnte Erfahrung für den Direktor der Johannesskolan in Malmö: Bücher einkaufen nach Herzenslust, mit ausnahms­weise richtig dickem Portemonnaie. Ein Teil lagere noch im Keller, sagt er. Den konnten sie noch gar nicht verteilen.

Nur ist seine Schule auch ein Beispiel dafür, dass dieser neue schwedisch-dänische Weg nicht als Steilvorlage für alle jene dient, die sich nach der vermeintlich heilen Lernwelt der vordigitalen Zeit sehnen.

Die Johannesskolan ist ein 120 Jahre alter Backsteinbau im Zentrum Malmös, 500 Kinder zwischen sechs und 16 Jahren gehen hier zur Schule. Seit vier Jahren ist Pär Blondell der Rektor, eigentlich Sozialkundelehrer, ein jung gebliebener Anfangvierziger in schwarzem T‑Shirt und offener grauer Kapuzenjacke. Die Schülerinnen und Schüler seiner Schule stammen aus 60 Nationen, das ist Charakteristikum und Schwierigkeit zugleich. Ihr Grundsatz ist: Du sollst auf deine Schule stolz sein. Als Lehrer, als Eltern und als Schüler. Und noch etwas, betont Blondell, sei ihnen wichtig: die Beziehung.

Er meint die zwischen Schülern und Lehrenden. Nicht die zwischen technischen Geräten. „Und auch darin sind wir gut.“

Jeden Morgen müssen die Kinder die Handys abgeben

Auch an der Johannesskolan haben sie der digitalen Freiheit neue, engere Grenzen gesetzt. Handys müssen sie bis zur sechsten Klasse nun zu Schulbeginn bei ihrem Lehrer oder der Lehrerin abgeben, die sie in einer Kiste sammeln und erst zum Schulschluss zurückgeben. Jeder Schüler erhält in Schweden einen Laptop – aber an der Johannesskolan bekommen ihn die Kinder nun erst in der zweiten statt zuvor schon in der ersten Klasse.

Doch zugleich stört Blondell etwas an der Debatte, die nicht zuletzt ein Reflex auf das schlechte Abschneiden Schwedens im jüngsten Pisa-Test sei. Es sei ein Fehler, jetzt Laptops gegen Bücher auszuspielen, Digitales gegen Analoges – und zu glauben, allein im bedruckten Papier liege die Lösung aller Probleme.

„Wir sollten uns mehr darauf fokussieren, mit welcher Methode wir den Kindern Lesen und Schreiben beibringen“, sagt er. „Es ist nicht wichtig, ob man das am Computer macht, mit dem Buch oder was auch immer.“ Und es komme darauf an, die Lehrerinnen und Lehrer immer weiterzubilden, auch untereinander würden sie das an seiner Schule tun.

Und dass ausgerechnet in den Schulcomputern permanente Ablenkung drohe, kann Blondell nicht nach­vollziehen, von einer Beschränkung auf bestimmte Seiten hält er nichts. „Alles, was sie am Computer tun können, können sie auch hierauf tun“, sagt er – und hält ein Smartphone in die Höhe, wie es nach seiner Erfahrung schon jeder Erstklässler besitzt. Und, auch das ist Blondell wichtig: „Die Lehrer und Schüler können mit den Computern“, dank ihrer Plattform Google Classroom, „gut miteinander kommunizieren. Sie haben mehr Zugang zueinander.“

Gutes Buch, böser Computer? So einfach ist es für Pär Blondell nicht.

Keine Kronzeugen gegen die Digitalisierung

Auch die Wissenschaftler vom Karolinska-Institut wollen sich nicht als Kronzeugen gegen die Digitalisierung missverstanden wissen. „Ich bin nicht gegen Bildschirme, nicht gegen Laptops und nicht gegen Smartphones“, sagt Torkel Klingberg, Mitverfasser des kritischen Papiers zur Bildungspolitik, am Telefon.

„Im Moment“, betont der Professor für kognitive Neurowissenschaften, „sind gedruckte Bücher zum Lernen das Beste, was wir empfehlen können.“ Computergestützte Lernmittel sollten seiner Einschätzung nach erst dann eingesetzt werden, wenn ihre Wirksamkeit erwiesen ist.

Zugleich jedoch setzt auch er große Hoffnungen in weitere Forschung – und künftige Entwicklungen. „Ich schätze, dass wir in fünf Jahren so weit sein könnten, digitale Medien auf eine wirklich gewinnbringende Weise zu nutzen“, sagt Klingberg.

Hoffnung auf KI

Vielversprechend erscheinen ihm insbesondere Anwendungen, die auf Künstlicher Intelligenz basieren – und es schaffen, das alte Schulversprechen einzulösen, jeden Schüler und jede Schülerin individuell zu fördern. In der Wissenschaft gilt die amerikanische Initiative „New Classrooms“ als beispielhaft – ein Programm, das die Erklärungen und Aufgaben dem Wissensstand und den Stärken der Kinder anpasst, nicht dem Alter. Laut Studien hatten die Schülerinnen und Schüler in Mathematik nach drei Jahren in Tests 23 Prozent besser abgeschnitten als Kinder aus regulärem Unterricht.

Ein Mathespiel zur Entspannung

Bei den Schülerinnen und Schülern der Johannesskolan wäre eine Abkehr vom Lernen am Computer jedenfalls äußerst unbeliebt. Shakila, 16 Jahre alt, Berufswunsch: Anwältin, sagt: „An der Uni und später im Job müssen wir doch all das können: recherchieren, präsentieren. Also ist es doch richtig, das auch in der Schule schon zu üben.“

„Wir brauchen“, sagt die Lehrerin Jovana Djuric, während sie die Klassenarbeiten sortiert, die ihre Sechst­klässler gerade geschrieben haben, „eine gute Balance zwischen digitalen und analogen Medien.“

Und auch Linnea Larson lässt ihre Schüler doch noch die Laptops aufklappen, ein Mathelernspiel zum Ende des Tages. Dann, als die Stunde endet, holt sie die rote Werkzeugkiste hervor, in der sie die Handys der Kinder am Morgen verstaut hatte. Und alle Schüler eilen zu ihr.